Am 22. August 2016 titelte das HAMBURGER ABENDBLATT: „Polizei schießt verwirrten Angreifer nieder.“
Vor einigen Monaten stieß eine Mutter ihren elfjährigen Sohn auf die Gleise. In diesem Fall ist die Diagnose eindeutig gewesen. Akute Psychose mit imperativem Inhalt. Während in der Jugendhilfe jeder Fall der Kindesmisshandlung oder –tötung akribisch untersucht wird, finden im akuten Wahn begangene Fehlhandlungen deutlich weniger Beachtung. Niemand stellt Fragen nach der Behandlung und ihren Beteiligten. In der Hamburger Jugendhilfe wurde sehr viel Geld in die Hand genommen, nachdem Kleinkinder zu Tode kamen. Mit großem Aufwand wurden strukturelle und personelle Veränderungen eingeführt.
Warum bleibt jegliche Untersuchung aus, wenn akut Kranke Menschen Schaden zufügen oder ihre eigenen Kinder umbringen?
Wir gehen davon aus, dass schizophren Erkrankte in der Regel nicht unbehandelt unter uns Leben, sondern wenigstens einmal während der Ersterkrankung in überwiegend jungen Jahren, in einem psychiatrischen Krankenhaus stationär behandelt wurden. Wir gehen weiter davon aus, dass im Anschluss eine Überleitung zur weiteren Betreuung/fachärztlicher Begleitung mit dem Patienten vereinbart wurde. Gleichzeitig sollte er oder sie eine Erhaltungsdosis über die weitere medikamentöse Behandlung mit den Neuroleptika ausgehändigt bekommen, und sie dem Facharzt auszuhändigen.
Auch hier ließe sich eine Kette therapeutischer Verantwortlichkeit rekonstruieren. Warum geschieht das nicht? Möglich ist der „Wildwuchs“ an psychiatrischen Einrichtungen, die offensichtlich zu einer „Atomisierung“ der Behandlung geführt haben. Blicken wir zurück:
Die 1975 dringend notwendige Einleitung der Psychiatrie-Reform führt zu einer notwendigen Veränderung der Behandlungsstrukturen. . Zu der Zeit wurden die Kranken in Großeinrichtungen fest gehalten. Das Behandlungswissen konzentrierte sich auf diese, vielfach grauenvoll geführten Häuser.
Heute umfasst der Therapieführer der Behörde für Arbeit, Soziales, Familie und Integration 200 Seiten mit einer Vielzahl von Angeboten.
Es ist hinreichend erwiesen, dass schizophren Erkrankte eine kontinuierliche fachlich kompetente Begleitung benötigen, die auf einer verlässlichen und tragfähigen Grundlage der Betreuungsperson beruht.
Die heutige Zahl der Angebote stellt zwingend die Frage nach den Schnittpunkten, um diesem Anspruch gerecht werden zu können.
Wir fragen deshalb mit Blick auf die öffentlich gewordenen akuten Erkrankungen nach der Arbeitsweise des Sozialpsychiatrischen Dienstes des Bezirksamtes Hamburg-Mitte, und nach den verlässlichen Schnittstellen zwischen den vielen Anbietern, der personellen Ausstattung und der fachbezogenen Kompetenz.
Des weiteres fragen wir nach der spezifischen beruflichen und menschlichen Kompetenz. Hiermit ist nicht der berufliche Abschluss gemeint, sondern das fundierte Wissen um diese Erkrankung.
Wie wird es erworben?
Wir fragen weiterhin, warum sich ein Kardinalfehler in der Behandlung, die fehlende kontinuierliche Betreuung, auch noch sichtbar in der Arbeitsstruktur niederschlägt. Ist niemand vom Personal anwesend, wird der Hilfesuchende an weitere Dienste bis hin zur Polizei (!) verwiesen.
Wie lautet das Behandlungskonzept des Sozialpsychiatrischen Dienstes?
Gibt es aufgrund der bisherigen Strukturen nicht Bessere mit kurzen Wegen, zum Beispiel die erweiterte Facharztpraxis, wie sie in der Enqueté zur Lage der Psychiatrie vorgeschlagen wurde? Auch psychiatrische Krankenhäuser wären dazu bei entsprechender Ausstattung besser in der Lage, weil sie Fachkompetenz und einen erfahrenen Umgang mit ihren Patienten haben und deshalb auch akute Situationen besser einschätzen können.
Kurzum: Die Psychiatrie-Reform hat u.a. dazu geführt, dass viele freie Träger ein Geschäftsmodell entwickelt haben, dessen inhaltliche Wirksamkeit niemand überprüft.
Deshalb wäre es außerordentlich hilfreich, 41 Jahre nach der beginnenden Psychiatrie-Reform eine neuerliche kritische Bestandsaufnahme in Auftrag zu geben. Die „Atomisierung“ der Angebote muss endlich beendet werden. Außerdem darf die therapeutische Verantwortung nicht im Nebel der Zuständigkeiten unsichtbar gemacht werden!